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Möchtest du recht haben oder glücklich sein?

Letztens, als ich mich mit meinen Freundinnen zum Essen traf, kam das Thema auf, wie die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter, die vor Jahren die Familie verlassen hat und ans andere Ende der Welt gezogen ist, mittlerweile ist. Wir sprachen darüber, was es heisst, zu vergeben, was «richtig» und was «falsch» ist und ob es sich lohnt, nachtragend zu sein. Da ich denke, dass dies in vielen Familien und Freundschaften immer wieder ein Thema ist, habe ich diesen Blog übers Rechthaben und Nachtragendsein verfasst – in der Hoffnung, dass es bei den einen oder anderen Betroffenen zu einer Erkenntnis führt.


Lass uns mal mit der folgenden Behauptung starten: «Es gibt mehr Sterne im All als Sandkörner am Meer». Würdest du dem zustimmen? Diese Aussage glauben einige Wissenschaftler:innen, belegen zu können, und einige Wissenschaftler:innen glauben, genau dies widerlegen zu können. Schon an diesem Beispiel sieht man sehr gut, dass wir alle ein anderes Verständnis von Dimensionen haben. Wir haben auch alle ein anderes Verständnis von gesundem Menschenverstand oder davon, was «richtig» und was «falsch» ist. Meinungen sind subjektiv und von unseren Erfahrungen, unseren Werten und von unserem persönlichen Wissen geprägt. Das zu erkennen, hilft vielleicht schon mal ziemlich, ein wenig Druck aus der «Ich habe recht und du hast unrecht»-Schleife zu nehmen.

Doch warum verstricken wir uns beim Diskutieren und Streiten viel zu oft im Rechthaben und sehen vor lauter Bäume den Wald nicht mehr? Weil wir vergessen, dass jede und jeder eine eigene Meinung haben darf, dass jede und jeder eine Geschichte bzw. eine Vergangenheit hat und wir vergessen, dass wir alle immer das in diesem Moment Bestmögliche geben. Wie viele Freundschaften und Familien sind zerstritten, «nur» weil jemand meint, dass er oder sie das Recht auf eine Entschuldigung hat, weil der oder die andere ihn oder sie beispielsweise mit Worten oder Taten verletzt hat? Doch bis diese Entschuldigung kommt, kann es Tage, Monate oder sogar Jahre dauern. Und während dieser Zeit sind wir tagtäglich nachtragend. Und wie du vielleicht merkst, bringt dieses Wort «nachtragend» bereits eine gewisse Schwere mit sich: Man trägt jemand anderem etwas nach. Kann man mit solch einer Schwere wirklich noch glücklich sein?



Meine persönliche Geschichte zu diesem Thema

Meine Erfahrung hat gezeigt, dass dieses nachtragende Verhalten langfristig alles andere als glücklich macht. Vor Jahren hat meine Mutter entschieden, die Familie zu verlassen und ans andere Ende der Welt, zu ziehen. Für mich war das damals das Schlimmste überhaupt, vor allem, weil ich mich zu diesem Zeitpunkt gerade in einer Depression befand. Ich war wütend, enttäuscht, traurig und ich fühlte mich von meiner Mutter im Stich gelassen und verstand überhaupt nicht, wie man das als Mutter machen kann. Die eigene Mutter verlässt einen einfach so ... «Das kann ich doch nicht ohne Strafe dulden», dachte ich mir. Ich war jahrelang wütend auf sie, wollte keinen Kontakt zu ihr haben und konnte die Entscheidung alles andere als akzeptieren. Ich sah mich als Opfer und sie als Täterin. Ich sah mich im Recht und sie im Unrecht. Ich habe das Recht, sauer zu sein, und das, was sie getan hat, ist nicht rechtens, das macht man einfach nicht. Ich stellte mich total quer. Doch war ich dabei glücklich? Ganz bestimmt nicht. Es belastete mich extrem und ich fühlte mich durch mein stures Verhalten nicht besser. Ich merkte also, dass ich etwas ändern musste und dass mein Verhalten mich nicht weiterbringt. Ich wollte vom Mangel und von der Wut und Traurigkeit wieder in die Fülle des Lebens und mein Glück wieder in die eigenen Hände nehmen. Natürlich klappte dies nicht von heute auf morgen, sondern es war ein Prozess. Doch wie konnte ich das Gefühl von Wut und Traurigkeit loslassen? Ich musste lernen, zu vergeben und zu akzeptieren: akzeptieren, dass meine Mutter neben dem Muttersein auch noch eine eigenständige Frau mit Bedürfnissen, Wünschen und Zielen ist. Ich lernte, dass Vergebung wichtig ist, und mir viel Last von den Schultern nahm. Auch wenn ich es nicht gutheisse, was sie getan hat, habe ich ihr für mich verziehen und es akzeptiert, damit ICH einen Haken hinter das Ganze setzen kann und wieder leichter und glücklicher durchs Leben gehen kann. Es ist und war nie mein Leben, sondern das Leben von meiner Mutter. Ich kann immer noch der Meinung sein, dass ich das nicht für richtig empfinde und kann sagen, dass ich das sicher niemals (Stand heute) so gemacht hätte. Aber wie gesagt, ist das einfach meine Meinung und gibt mir noch lange nicht das Recht, dass meine Mutter deswegen bei mir bleibt, geschweige denn, ich sie für ihren Entscheid verurteilen darf. Ich musste lernen, dass ich mit meinem Verhalten vor allem einfach nur mir selbst geschadet habe und diese nachtragende Art und Weise langfristig keinen Sinn machte. Ich habe den Stolz hinter mir gelassen und bin auf den «sunny side of life»-Zug aufgesprungen. Welche Ansätze mir unter anderem dabei geholfen haben, siehst du in der folgenden aufklappbaren Übersicht.


Wie du lernen kannst, weniger nachtragend zu sein und nicht immer auf deinem Recht zu beharren


  • Versetze dich in die Lage des Gegenübers hinein. Vielleicht erinnerst du dich an einen Fehler, den du selbst mal gemacht hast und daran, wie dir jemand dafür verzeihen konnte, ohne dabei nachtragend zu sein. Du kannst dir diese Person vielleicht als Vorbild dafür nehmen. Oder versetze dich in eine Person hinein, bei der du dich gerade nachtragend verhältst. Stell dir mal vor, wie sich diese Person fühlen könnte und dass sie vielleicht auch verletzt ist, wenn du ihr nicht verzeihst. Lerne, empathisch zu sein und dich in andere Personen hineinzuversetzen und sie fair und liebevoll zu behandeln.

  • Vergrössere dein Selbstbewusstsein. Kritik oder Entscheidungen von anderen sollten dich nicht persönlich angreifen. Wenn jemand eine Entscheidung trifft, die dir nicht passt, heisst das nicht, dass diese Entscheidung gegen dich als Person ist. Und auch wenn du kritisiert wirst, werde nicht wütend oder nachtragend, denn vielleicht ist diese Kritik ja konstruktiv und bringt dich im Leben einen Schritt weiter. Und falls nicht, dann ist es einfach nur EINE Meinung von jemandem und nicht allgemeingültig. Wenn du das alles nicht zu persönlich nimmst und dein Selbstwertgefühl davon unberührt bleibt, dann sind deine Chancen gross, dass du weniger nachtragend bist.

  • Höre anderen Menschen besser zu. Oftmals sind Ratschläge oder Anmerkungen gar nicht böse gemeint, sondern werden lediglich falsch interpretiert. Frage besser noch einmal nach oder sprich mit dem Gegenüber, bevor du wütend auf eine Person wirst. So gelingt es dir besser, eine weniger nachtragende Person zu werden.

  • Lass es gut sein. Auch wenn du «recht» hast, lass es gut sein und beharre nicht darauf. Lass deinem Gegenüber mal die Freude, denn du weisst ja, was für dich richtig und deiner Meinung nach korrekt ist. Des Friedens willen einfach mal sagen: «Das ist zwar nicht meine Meinung, aber ich akzeptiere, was du sagst.» Und somit kannst du das ganze ad acta legen, ohne dich hineinzusteigern.

  • Lebe im Hier und Jetzt. Indem du nachtragend bist, lebst du ständig in deiner Vergangenheit. Dies kann sehr ungesund sein. Denn wer in der Vergangenheit lebt, kann anfälliger für Depressionen sein, da Altlasten nicht vollständig verarbeitet wurden. Es bringt dich also nicht weiter und macht dich vielleicht sogar krank, wenn du langfristig nachtragend bist. Schau stattdessen nach vorn und versuche, dich von der Situation oder dem Streit zu befreien.


Zum Abschluss teile ich hier noch eine buddhistische Weisheit mit dir, die das ganze Thema ziemlich gut auf den Punkt bringt:


«An Wut festhalten ist wie Gift trinken und erwarten, dass der Andere dadurch stirbt.»

Du hast es selbst in der Hand, wie viel Gift du ertragen willst oder kannst, ohne dass es allzu grosse Schäden bei dir hinterlässt. Wenn du das nächste Mal also meinst, auf deinem Recht beharren zu müssen oder du nachtragend bist, dann überlege dir: Möchtest du recht haben oder möchtest du glücklich sein? Nur du hast es in der Hand.

Deine Janine

PS: Die Frage «Möchtest du recht haben oder glücklich sein» ist ursprünglich übrigens vom Psychologen Marshall Rosenberg und gehört zu den Grundlagen der sogenannten Gewaltfreien Kommunikation.





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